ISBN 978-3-00-068559-0
Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan
Wir hatten im vorangegangenen Kapitel die Bewegungssteuerung durch Schwerpunktmodule analysiert. Nun gehen wir einen Schritt weiter. Wir wissen, dass der Output des Schwerpunktgitters im Falle des Tectums die Motoneuronen der Augenmuskeln ansteuert. Doch auch die Augenmuskeln erzeugen einen Output, der über ihre Muskelspannung informiert. Sehnenorgane werden durch die Muskelspannung erregt und erzeugen eine Feuerrate, die mit zunehmender Muskelspannung größer wird.
Hierbei können wir die Arbeitsweise der Sehnenorgane vom physikalischen Prinzip mit Spiralfedern vergleichen, deren Längenzunahme ein Maß für die Muskelspannung ist.
Für die Augenmuskel nehmen wir vereinfachend an, dass die Zugspannung seines Sehnenorgans proportional zum Winkel ist, um den das Auge sich bewegt.
Hierzu stellen wir uns das Sichtfeld mit einem Koordinatensystem vor. Die waagerechte Achse u steht für die seitliche Bewegung des Blicks, die senkrechte Achse v bezieht sich auf die senkrechten Augenbewegungen. Oft sind beide Bewegungskomponenten gleichzeitig vorhanden. Wenn dann das Auge den Punkt P fixiert, können wir die Größen u0 und v0 als Maß für die Zugspannung der Sehnenorgane der zugehörigen vier Augenmuskeln verwenden, die im Koordinatensystem mit ihren Namen eingetragen sind. Diese Zugspannungen werden in neuronale Feuerraten übersetzt.
Die Größe u0 ist für die seitliche Bewegung des Auges nach links und rechts zuständig. Für eine Bewegung nach rechts wird u0 positiv, für die Gegenrichtung negativ.
Die Größe v0 ist zuständig für die Hebung und Senkung des Blicks. Positive Werte von v0 bedeuten eine Augenbewegung nach oben, negative eine Bewegung nach unten.
Wenn u0 = 0 und v0 = 0 zutrifft, schauen wir geradeaus nach vorn.
Für die beteiligten Größen u0, v0, t und ω hierbei gilt
Wir bezeichnen den Winkel ω als Phasenwinkel und t als Radiusvektor im Urgrößendiagramm. Der Phasenwinkel ist der Winkel zwischen der positiven x-Achse und dem Radiusvektor t.
Die Sehnenorgane der Augenmuskeln übertragen die Zugspannung in eine Feuerrate. Wir kennen die konkrete Übertragungsfunktion nicht, aber wir wissen, dass die Feuerrate mit zunehmender Zugspannung größer werden muss. Außerdem vermuten wir eine exponentielle Übertragungskennlinie.
Eine mittlere Feuerrate fm bilde den Ausgangswert. Sie möge für alle vier Augenmuskeln vorliegen, wenn der Blick geradeaus ausgerichtet ist, also u0 = 0 und v0 = 0 gilt.
Für die Feuerraten der vier Augenmuskeln wählen wir folgenden (theoretischen) Ansatz:
Ein Vergleich mit den Feuerraten des Schwerpunktmoduls zeigt, dass die Feuerraten genauso groß sind wie in dem Fall, dass sich ein Objekt im Punkt P befindet und der Blick geradeaus gerichtet ist, so wie es im tectalen Schwerpunktmodul der Fall ist. Wir vermuten hier eine gewisse Kompatibilutät.
Ändert sich also der vertikale oder der horizontale Anstellwinkel des Auges, ändert sich die Feuerrate gemöß den obigen Formeln. Diese sind nur als Beispielsformeln zu verstehen, bis Neurologen und Augenoptiker die Zugspannung der Sehnenorgane der Augenmuskeln real vermessen haben. Auf alle Fälle wird die Feuerrate mit zunehmendem Auslenkwinkel größer, die Feuerratenfunktionen sind streng monoton steigend. Es steht jedem frei, mit einem anderen theoretischen Ansatz die Berechnungen nachzuvollziehen, das Resultat wird prinzipiell das Gleiche bleiben.
Die Sehnenorgane projizieren im Strickleiternervensystem und im Neuralrohr kopfwärts in die cortikale Etage. Im Kapitel zum motorischen Divergenzmodul mit seitlicher Signalübertragung wurde gezeigt, dass im cortikalen Projektionsfeld dieser Signale Erregungsmaxima um ein Zentrum herumwandern, wenn sich die Gelenkwinkel ändern.
Wir wollen dies am Beispiel des Auges diskutieren.
Mit N1 bis N4 bezeichnen wir die cortikalen Neuronen, die die Signale der Sehnenorgane der vier Augenmuskeln empfangen.
Wir stellen das cortikale Gebiet, in dem die Augenmuskelsignale der Sehnenorgane eintreffen, grafisch in einem Koordinatensystem dar.
In den Punkten N1 bis N4 treffen die Erregungen f1 bis f4 ein.
Dieses Mal trifft der Output der vier Sehnenorgane der Augenmuskeln in den vier Neuronen N1 bis N4 ein. Wie jede neuronale Erregung kann sie sich in der cortikalen Fläche ausbreiten, wozu sie Interneuronen nutzt. Wir sind in dieser Monografie immer davon ausgegangen, dass die Übertragungsfunktion für die neuronale Erregung generell in einem relativ großem Gebiet eine streng konkave Funktion ist. Überlagern sich vier solcher Erregungen von den Neuronen N1 und N4, so entsteht in der Summe wieder eine streng konkave Funktion mit einem globalen Erregungsmaximum. Ändert sich die Blickrichtung des Auges, so ändert sich auch der Ort der maximalen Erregung. Folgen die Augen einer Rotationsbewegung, so rotiert auch der Vektor t in obiger Darstellung. Jede Winkelkonstellation führt zu einem anderen Maximalpunkt.
Für die resultierende Feuerrate f gilt die Gleichung
Für die Vektoren r1 bis r4 gelten folgende Gleichungen:
Einsetzen liefert die Ausgangsgleichung
Wir klammern gemeinsame Faktoren aus.
Nun setzen wir die Größen f1 bis f4 ein. Für diese hatten wir bereits Gleichungen gewonnen:
Wir setzen dies ein und erhalten:
Wir wenden das folgende Additionstheorem an.
Dadurch erhalten wir die Funktionsgleichung
Wir setzen u + v = w, u – v = z, x + y = s und x – y = d und erhalten wegen
Eine neue Gleichung in den Variablen s und d anstelle von x und y:
Wir wollen ermitteln, für welche Werte von s und d der Funktionswert von f ein Maximum annimmt. Dazu bilden wir die partiellen Ableitungen nach s und d und setzen sie gleich null. Wir beachten, dass der Faktor fm weder die Variablen x oder y und somit auch nicht die Variablen s und d enthält, also im Sinne der Differentialrechnung eine Konstante darstellt.
Wir beachten, dass der Faktor
ist, weil fm und λ stets Positiv und größer als Null sind und die Exponentialfunktion ebenfalls, auch die Funktion cosh(x) ist immer größer als Null. Ebenso gilt
Damit liefert das Nullsetzen der Ableitungen die zwei Bedingungen:
Einfaches Umformen liefert folgende Bedingungen
Wir wenden die Umkehrfunktion zu tanh(x) an und erhalten:
Wegen setzen u + v = w, u – v = z, x + y = s und x – y = d gilt nun auch:
Wir können u und v durch t und ω ausdrücken.
Wegen
Gilt nun:
Für diesen Winkel ω nimmt die neuronale Erregung ein Maximum an.
Wir können x und y durch r und α ausdrücken.
Dann erhalten wir für den Phasenwikel ω eine andere Darstellung.
Und zu guter Letzt könne wir die Funktion Artanh(x) durch den Logarithmus ausdrüchen.
für Betrag(x) < 1.
Dann gilt:
Wir versuchen nun, den Radiusvektor t zu berechnen.
Wegen
gilt auch
Wenn wir x+y und x-y ersetzen durch die hergeleitenen Gleichungen, so erhalten wir folgendes Ergebnis:
Soll die Funktion f(x,y) an der Stelle x und y ein globales Maximum annehmen, so müssen die Werte u und v beziehnungsweise t und ω die obigen Bedingungen erfüllen.
Somit gibt es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Blickrichtung des Auges und dem Ort des Erregungsmaximums im cortikalen Projektionsfeld der Signale der Sehnenorgane des Auges.
Die Formel für den Phasenwinkel ω sieht zwar sehr kompliziert aus, aber jeder Mathematiker erkennt, dass es sich um eine periodische Funktion des Winkels α in der Steuerebene der Augenmuskeln handelt.
Dreht sich der ursprüngliche Radiusvektor t im Blickfeld um einen Winkel ω, so rotiert im cortikalen Feld auch der Radiusvektor r um eine Winkel α.
Rotiert also ein kleines schwarzes Objekt im Sehfeld um die Sehfeldmitte, wobei ihm der Blick folgt, so erzeugen die Sehnenorgane der Augenmuskel einen Output im cortikalen Projektionsfeld, und das Erregungsmaximum rotiert ebenfalls um den Koordinatenursprung und wird durch den Radiusvektor r unn den Winkel α gekennzeichnet.
Unter Benutzung des Programms Excel und der darin enthaltenen Möglichkeit, räumliche Darstellungen von Funktionen zweier Variablen zu erzeugen, können wir den Radiusvektor t in Abhängigkeit vom Extrempunkt P(x,y) grafisch darstellen.
Der Funktionsverlauf von t kann einmal seitlich von oben gesehen und leicht gedreht dargestellt werden, wie hier angegeben.
Hier sieht man, dass nur Werte von t, die in einem gedrehten Quadrat liegen, überhaupt zu einem Maximum der Erregung führen. Die blaue Fläche enthält die unzulässigen Werte von x und y, in denen gar kein Maximum auftraten kann.
Die Funktionsfläche gleicht einer viereckigen Schüssel, deren tiefste Stelle genau in der Mitte bei x = 0 und y = 0 liegt und die von der Mitte zum Rand ansteigt.
Der Phasenwinkel ω kann ebenfalls in Abhängigkeit von x und y dargestellt werde. Jedem Winkel ω entspricht eine andere Farbe (Siehe Legende).
Man sieht eine ähnliche Darstellung wie bei den Orientierungssäulen im visuellen Cortex. In der blau eingefärbten Fläche kann kein Maximum existieren. In der übrigen Fläche sieht man, die der Winkel ω windmühlenartig Werte zwischen -90 und + 90 Grad einnimmt. Rotiert der Radiusvektor t um den Mittelpunkt, so rotiert auch der Punkt P(x,y), in dem die Maximalerregung in der x-y-Ebene angenommen wird, ebenfalls. Die Nichtlinearitäten der Übertragungskennlinien der Neuronen bewirken jedoch, dass die gleichmäßige Rotation von t in eine etwas ungleichmäßige Rotation des Vektors r übertragen wird. Nur bei Vielfachen des Winkels von 45 Grad stimmt die Richtung von t und r überein, dazwischen läuft r etwas vor bzw. nach.
Nun müssen wir die Augensteuerung genauer diskutieren. Das visuelle Eingangsfeld im Tectum – von dem es für verschiedene visuelle Modalitäten eigenständige Eingangsfelder gibt – dient der Augenmuskelsteuerung. Ein Objekt, welches genau im Zentrum des Gesichtsfeldes liegt, erzeugt im Tectum in allen vier Projektionsneuronen zu den Augenmuskeln bzw. den Halsmuskeln gleichstarke Signale, so dass alle Muskeln gleichmäßig kontrahieren. Dadurch bewegt sich das Auge nicht.
Liegt das Objekt nicht zentral, sondern exzentrisch, so erhalten die Augenmuskeln Signale, deren Stärke mit zunehmender Exzentrizität zunimmt. Die Kontraktion der Augenmuskeln fürht zu einer Augenbewegung derart, dass der Blick auf das Objekt zentriert wird. Da sich das Objekt nun im Blickzentrum befindet, sind die Muskelsignale nunmehr identisch. Da die Muskeln wie Schrittmotoren arbeiten, bleibt der Bkick auf das Objekt fokussiert.
Sehr wichtig ist es jedoch für das Lebewesen, genau zu wissen, welche Position die Augen nun einnehmen. Zu diesem Zweck wird die Muskelspannung mit Hilfe der Sehnenorgane gemessen, die umso stärker feuern, je größer die Muskelspannung ist.
Die vier Signale der vier beteiligten Augenmuskeln (zwei Augenmuskeln dienen dem Rollen der Augen und sind hier unwesentlich) erreichen ebenfalls den Frontalcortex auf seiner sensorischen Seite. Dort kontaktieren sie die Eckneuronen eines „sensorischen“ Augenfeldes, welches die Muskelkontraktion analysiert. Diese bilden ebenfalls die Ecken eines größeren Viereck, welches eine Unzahl von Outputneuronen enthält. Von den vier Inputneuronen gelangt die Erregung in die Fläche dieses sensorischen Augenfeldes und bildet durch Überlagerung an einer Stelle ein Erregungsmaximum, welches bei Bewegung der Augen ebenfalls mit dem beobachteten Objekt hin- und herwandert, da die Bewegung des Maximums an die Bewegung des Objekts gekoppelt ist.
Doch was fängt das Gehirn mit dieser Information an?
Was hat das Gehirn davon, dass ein Erregungsmaximum in sensorischen Feld umherwandert und den Ort des visuellen Objekt quasi „verschlüsselt“. Jedem Ort entspricht ja ein Ort im Sehfeld.
Der Nutzen besteht darin, dass dieses sensorische Augenfeld das Gedächtnis des Lebewesens aktiviert. Dieses Feld protokolliert praktisch die aktuell vorliegenden Systemzustände. Daher werden wir diese Art von cortikalen Feldern, die den Input von Sehnenorganen empfangen und als Divergenzmodule in eine Maximalcodierung überführen, als sensomotorische Protokollfelder bezeichnen.
Das jeweils aktive Outputneuron des sensomotorischen Protokollfeldes im Frontalcortex aktiviert absteigend ein Neuron im Nucleus ruber, dieser aktiviert ein Neuron im Nucleus olivaris. Dessen Axon aktiviert eine Purkinjezelle im Cerebellum. Wandert das Objekt im Sehfeld, wird ein anderes cortikales Neuron und letztlich eine andere Purkinjezelle von einer anderen Kletterfaser stark aktiviert.
Gleichzeitg erfolgt im Auge aus dem Gebiet des schärfsten Sehens – dieses stellt einen Ausschnitt des Sehfeldes dar – eine Signalprojektion über die Brückenkerne in die Moosfasern und letztlich in die Parallelfasern des Cerebellums. Die durch die visuellen Signale des Objekts verursachten Erregungen breiten sich auf den Parallelfasern aus und erreichen die betreffende, stark aktivierte Purkinjezelle. Durch den Vorgang der Langzeitdepression (LTD) und der Langzeitpotenzierung (LTP) wird die synaptische Kopplungsstärke der aktiven Parallelfasern schlagartig verändert, so dass diese Purkinjezelle das aktuelle Bild des Objekt abspeichert und später in der Lage ist, dieses wiederzuerkennen.
Der Output der Divergenzfelder, die die Muskelspannungssignale empfangen, dient also der Abspeicherung (Protokollierung) der aktuell anliegenden Signale. Im optischen Fall der Abspeicherung sind es visuelle Bilder. Sobald das Auge seinen Blick auf eine bestimmte Stelle des Sichtfeldes richtet, wird eine zugehörige Purkinjezelle aktiviert und speichert die anliegenden Signale und somit das aktuelle Bild.
Nun wird verständlich, warum wir in den Divergenzfeldern oder Divergenzmodulen eine starke Signaldivergenz beobachten. Je mehr Outputneuronen dort vorhanden sind, um so genauer sind die in den Purkinjezellen gespeicherten Daten.
Da alle Gelenke Sehnenorgane zur Muskelspannungsmessung verwenden und zum Cortex projizieren, gibt es zu jedem Gelenk ein derartiges sensomotorisches Protokollfeld. Und jedes speichert in jedem Augenblick die aktuellen Signale des Lebewesens, die in der Lage sind, die Parallelfasern des zugehörigen Cerebellumclusters und seiner Nachbarcluster (Clustergruppe) zu erreichen.
Dies sind zumindest die Signale aller anderen Sehnenorgane, so dass das Lebewesen ständig ein aktuelles Modell der Motorik seines Körpers besitzt. So könnte Körperbewusstsein entstehen. In jedem der vielen einzelnen sensomotorischen Protokollfelder ist genau ein Neuron maximal erregt und repräsentiert die Gelenkwinkel des Gelenks, sein Output verknüpft im Cerebellum alle aktuellen Gelenkwinkel des Körpers miteinander. So könnte eine aktive Neuronenwolke, diffus im Cerebellum verteilt, der Repräsentant des motorischen Körperbewusstseins sein. Bereits bei Prof. Wolf Singer wurde das Bindungsproblem ausführlich diskutiert. Es erscheint möglich, dass sensomotorische Protokollfelder für die Bindung von motorischen Wahrnehmungen zuständig sein könnten.
Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan