3. Der Wandel der Abbildungstopologie und der Übergang von zylindrischen zu sphärischen Körpermodellen  


Das Neuralrohr mit seinem Zentralkanal, der die Ventrikelflüssigkeit enthält, führt zu einer vorwiegend zylindrischen Form der neuronalen Körpermodelle.

Die Cortexrinde ist – wenn man sie sich entfaltet vorstellt – annähernd halbkugelförmig angeordnet und besitzt daher eine sphärische Form.

Daher muss irgendwo im Gehirnsystem ein Übergang von der zylindrischen zur sphärischen Form erfolgen.

Gleichzeitig ist die Cortexrinde ein neuronales Körpermodell. Bereits recht früh fiel auf, dass es eigentlich viele, nebeneinander existierende Körpermodelle waren. So gibt es sowohl im sensorischen als auch im motorischen Cortex derartige Körpermodelle, die als Humunculi bezeichnet werden. Es zeigt sich, dass unterschiedliche Modalitäten eigenständige Körpermodelle im Cortex bilden.

Wie erfolgt im Gehirn der Übergang von den zylindrischen zu den spärischen Körpermodellen?

Zunächst erfolgte auf einer ersten Stufe des frühen Strickleiternervensystems die Trennung von Modalitäten in Modalitätenleitern, aus denen die Lobi des Gehirn entstanden.

Dazu teilten sich die oberen Leitersegmente auf und bildeten eigenständige Teilleitern, die wir hier auch als Schleifen bezeichnen, weil die Erregung der Rezeptoren in ihnen hochstieg, wie in einer Schleife zur motorischen Seite wechselte und wieder herabstieg.

Die Temporalschleife empfing vorwiegend die Signale der Haarzellenrezeptoren. Diese dienten einerseits dem Vestibularsystem, andererseits dem Seitenliniensinn des Rumpfes. Mit der Weiterentwicklung des Vestibularsystems entstand der Hörsinn, dessen Signale ebenfalls in der Temporalschleife ausgewertet wurden.

Weiterhin empfing die Temporalschleife direkt – also ohne Umweg über die thalamische Ebene – die olfaktorischen Signale und umfasste später auch das sich bildende limbische System.

Die Parietalschleife empfing die Signale der Muskelspannungsrezeptoren des Rumpfes sowie die der Sehnenorgane und die Signale weiterer, die Gelenkstellungen analysierenden Rezeptoren des Rumpfes. Später kamen die analogen Signale der sich entwickelnden Flossen bzw. der Extremitäten der Tetrapoden hinzu.

Die Okzipitalschleife empfing den Output der Sehrezeptoren.

Der Output des Cerebellums gelangte in eine Neubildung, die Frontalschleife.

Aus diesen vier Modalitätenschleifen gingen die Lobi des Gehirns hervor.

 

Doch auch innerhalb eines Gehirnlappens kam es zur weiteren Aufteilung der Modalitäten. Dies lag daran, dass die Neuronen gleicher Modalität eine Tendenz zur räumlichen Konzentration besaßen. Beginnend oben in den Kopfsegmenten, später fortschreitend auch in tieferen Segmenten, begannen die Neuronen und Axone gleicher Modalitäten, sich räumlich einander anzunähern und letztlich selbständige Neuronenkerne und Axonbündel zu bilden.

Bei der Weiterentwicklung der einfachen Wirbeltiere kam es im Verlauf der Evolution dazu, dass sich diese ursprünglich zylindrisch organisierten Körpermodelle des Neuralrohrs weiterentwickeln konnten. Dies lag einerseits daran, dass sich die Neuronenanzahl in den Kopfsegmenten stark erhöhte. Ursache war die Herausbildung neuer Rezeptorenarten, aber auch die Zunahme der Körpergröße und damit der Anzahl der Rezeptoren. Viel stärker war der raumfordernde Einfluss der sich entwickelnden Signaldivergenz. Hier wurde Input auf mehrere, teils viele Neuronen aufgeteilt, was die Übertragungssicherheit der Signale stark verbesserte. Eine weitere Folge der starken Signaldivergenz lag in der Herausbildung einer Extremwertcodierung von Signalen. Die entstehenden Divergenzmodule erlaubten eine viel feinere Analyse der Rezeptorsignale.

Die obersten Kopfsegmente des Neuralrohrs teilten sich zudem in einen linken und einen rechten Anteil, aus dem sich die zwei Gehirnhälften entwickelten. Damit teilte sich auch der bisher röhrenförmige Zentralkanal auf Kopfhöhe in einen linken und rechten Anteil, der jeweils einer Hirnhälfte zugeordnet war, der ursprüngliche Zentralkanal endete an dieser Aufgabelung.

Dadurch bildete der verbliebene Ventrikelraum auf dieser Höhe eine Art Hohlraum, der nach oben abgeschlossen war und zwei seitliche Abzweigungen hatte. Die sensorischen und motorischen Kerne, die dem frühen Strickleitersystem entstammten, fanden ihre Position nunmehr an der oberen Grenzfläche dieses Ventrikelraumes. Diese Grenzfläche können wir uns vereinfacht als die Oberfläche eines Fußballs vorstellen. Erst im späteren Verlauf der Evolution wurde auch dieser Hohlraum durch das sich ausdehnende Gehirn zusammengestaucht und stark verformt. Er bildet beim Menschen den dritten Ventrikel, die Seitenventrikel werden als erster und zweiter Ventrikel bezeichnet. Ein vierter Ventrikel liegt im Rhombencephalon (Rautenhirn), welches unter anderem das Cerebellum beherbergt.

Durch diese Vorgänge änderten sich die neuronalen Körpermodelle in diesen oberen Segmenten. Sie waren nicht mehr zylinderförmig wie im Neuralrohr, sondern nahmen eine sphärische Form an. Aus den Zylindern wurden kreisförmige, jedoch gekrümmte Flächen.

Es ist wie der Übergang von Zylinderkoordinaten zu Kugelkoordinaten, wie er von Atlanten und Globen bekannt ist. Auf Atlanten wird die Erde meist in Zylinderkoordinaten abgebildet, was zu Verzerrungen der Größenverhältnisse in den Polregionen führt, während auf einem Globus die Kugelkoordinaten die Grundlage bilden und keine Verzerrungen auftreten.

Diese Änderung der Abbildungstopologie betraf unter anderem den Torus semicircularis, das Tectum opticum sowie die thalamischen Kerne. Diese bildeten nun annähernd kreisförmige, etwas gekrümmte Flächen mit einer ausgeprägten Schichtenstruktur. Die Schichtenstruktur kam dadurch zustande, dass die sechs Klassen von Projektionsneuronen weiterhin erhalten blieben. Verschiedene Submodalitäten bildeten zudem übereinander geschichtete Substrukturen. Diese Schichtenstruktur ist beispielsweise vom Corpus geniculatum laterale hinreichend bekannt.

Jede sensorische Modalität hatte ihre eigene Neuronenschicht. Die Segmente wurden in der annähernd kreisförmigen Fläche durch ineinandergeschachtelte Segmentringe repräsentiert, der innerste Ring entsprach dem Schwanzsegment. Und unterhalb dieser Strukturen befand sich nun der ursprünglich kugelähnliche Ventrikelraum des dritten Ventrikels.

Diese Anordnung in der Fläche ermögliche viele Wechselwirkungen mit den im Verlauf der Evolution entstandenen Fernortungssinnen, wie dem Sehsinn, dem olfaktorischen Sinn, dem elektrosensorischen Sinn oder dem radarähnlichen Hörsinn der Fledermäuse, aber auch mit dem Vestibularsinn. Denn hier bildeten die zugehörigen Rezeptoren ebenfalls Flächen, und die sensorischen Projektionsneuronen übertrugen diese Flächenstruktur ebenfalls in die sensorischen Eingangsgebiete dieser Modalitäten.

So entstanden im Verlauf der Evolution multisensorische Module wie der Torus semicircularis oder das Tectum opticum, die nun in der sphärischen Abbildungstopologie den Vorteil der Wechselwirkung mit den Signalen der Fernortungssinne ermöglichten.

Und weil diese Module über Projektionsneuronen der Klasse 3 in entsprechende motorische Module projizierten, war die multisensorische Einflussnahme auf die Motorik gesichert.

Ein besonderer Vorteil dieser sphärischen sensomotorischen Körpermodelle bestand in der Mögichkeit, über Schwerpunktmodule gezielt Körperbewegungen zu erzeugen, die die Verfolgung einer Beute ermöglichte, indem olfaktorische, visuelle, akustische oder elektrosensorischen Signale ausgewertet wurden, die von der Beute verursacht wurden. Dies wird im Kapitel zu den Schwerpunktmodulen ausführlicher beschrieben werden.

Ebenso konnte nach dem gleichen Prinzip einem Fressfeind ausgewichen werden.

Daher entwickelten sich die Schwerpunktmodule zu wichtigen motorischen Steuerzentren.

Die Schwerpunktmodule, deren Wirkungsweise später beschrieben wird, erforderten zwingend den Übergang von den zylindrischen zu den sphärischen Körpermodellen, die wir letztlich auch im Cortex wiederfinden. Denn auch der Cortex kann – wenn man sich ihn entfaltet vorstellt, durchaus als halbkugelähnlich aufgefasst werden und stellt daher ebenfalls ein sphärisches Gebilde dar.

Die Entwicklung zu sphärischen Körpermodellen begann recht früh bei den Wirbeltieren und wurde bereits bei Fischen nachgewiesen.

Das Tectum opticum als Hauptziel der retinalen Projektion wurde für verschiedene Spezies ausgiebig untersucht. Die topografische Anordnung dieser Projektion wurde sowohl anatomisch (u.a. Attardi & Sperry, 1963; Meyer, 1980) als auch elektrophysiologisch (u.a. Jacobson & Gaze, 1963; Schwassmann & Kruger,

1965a) untersucht.

 Morna Gruber schreibt in Ihrer Dissertation dazu folgendes:

 

„Sowohl Jacobson & Gaze (1964) als auch Schwassmann & Kruger (1965) konnten

durch elektrophysiologische Studien eine präzise topographische Projektion der

visuellen Welt auf das Tectum opticum nachweisen, die in Abb. 1.6.6 dargestellt ist.“

Das nachfolgende Bildzitat aus dieser Dissertation zeigt die Übernahme der Topologie der Retina in die spärisch geformte Schicht des Tectum opticum:

 

Abbildung aus [123], Morna Gruber, Dissertation

 

In dieser Abbildung ist rechts die Retina symbolisch dargestellt und in ihr 26 verschiedene, jedoch sortierte und nummerierte rezeptive Felder. Rechts ist das Tectum opticum dargestellt. Oben ist die Lage der zugehörigen rezeptiven Felder eingezeichnet. Darunter ist die sphärische Struktur des Tectums dargestellt mit einem Koordinatensystem, welches die Retina in Winkel einteilt.

 

Hierbei zeigt sich, dass das Tectum opticum aus zwei symmetrischen Hälften besteht, die in ihrer Gesamtheit die Retina repräsentieren. Die rundliche Gesamtstruktur ermöglicht die Nutzung als Schwerpunktmodul für das komplette Sehfeld. Die Einteilung in die linke und die rechte Sehfeldhälfte kann hierbei völlig entfallen.

 

Doch wie kann der neuronale Input in das Tectum opticum auf die Motorik einwirken? Wie steuert das Tectum die Augenbewegungen, die Drehung des Kopfes zum anvisierten visuellen Objekt oder die zugehörige Rumpfbewegung? Dazu muss man sich an die Topologie innerhalb der Modalitäten erinnern.

 

Wir können die verschiedenen Modalitäten entsprechend ihres evolutionären Alters einsortieren. Die frühste Modalität war sicherlich die Olfaktorik, gefolgt vom visuellen Sinn. Sie belegen im frühen Strickleiter-Nervensystem die oberen zwei Etagen.

Da in unserem Neuralrohr-Zylindermodell der Modalitäten die älteren stets innen, die jüngeren außen angeordnet sind, müssen sich beispielsweise die visuellen Modalitäten innen befinden, die motorischen Modalitäten des Rumpfes jedoch außen. Bezogen auf das Tectum opticum müssen wir davon ausgehen, dass in der Innenfläche des spärischen Körpermodells die Rezeptorsignale der Retina eintreffen. Außen am Rand, um diese runde Fläche verteilt, befinden sich die Inputneuronen, die die motorischen Rumpfsignale beispielsweise der Muskelspindeln empfangen, ebenso die Inputneuronen, die von den Muskelspindeln der Augenmuskeln angesteuert werden.

 

Wenn nun visueller Input im Tectum opticum eintrifft, so werden die dortigen Inputneuronen in der runden Fläche bzw. Schicht erregt. Diese Erregung breitet sich in der Fläche aus und führt durch Überlagerung zu einem Erregungsmaximum. Grund ist die streng konkave Übertragungsfunktion eines jeden Inputneurons. Sie sichert, dass es nur ein und genau ein Erregungsmaximum gibt. An diesem Ort befindet sich das Abbild eines wichtigen visuellen Objekts.

Da die Erregung auch die am Rande der Tectumfläche angeordneten Projektionsneuronen zu den Motoneuronen der Muskeln des Auges bzw. des Halses und des Rumpfes erreicht, indizieren die visuellen Signale einen neuronalen Output in diesen motorischen Steuerneuronen. Ist das Erregungszentrum in der Mitte des Tectums, so wird die Erregung am Rande des Tectums überall gleich sein. Dann heben sich die muskulären Spannungen auf, da jeder Muskel das gleiche Erregungssignal wie sein Gegenspieler erhält. Liegt das visuelle Objekt außerhalb des Zentrums, so sind die Erregungsanteile am Tectumrand nicht mehr identisch, sondern verschieden. So kommt es zu Bewegungen der Augen, der Halsmuskel oder der Rumpfmuskel. Deren Projektionsneuronen bilden im Tectum ebenfalls Schichten, die entsprechend des Körpermodell angeordnet sind: oben die Augenmuskelneuronen, darunter die Halsmuskelneuronen, und als letzte unten die Rumpfmuskelneuronen. Daher werden die Augenmuskel als erste aktiviert, die anderen können mit etwas Verzögerung folgen. Genauer beschrieben werden die Schwerpunktmodule in einem eigenen Kapitel.



Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan