Gehirntheorie des Menschen

ISBN 978-3-00-068559-0

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

 16  Die Entstehung von Spachverständnis

Gedächtnis zu besitzen bedeutet, sich etwas merken zu können. Zum Beispiel das Abbild eines bestimmten Vogels in einem Vogelkundebuch.

Es kann aber auch komplizierter sein: Sich eine Szene aus einem Film zu merken, bedeutet, dass man nicht nur ein Bild speichert, sondern eine Bildfolge. Hier sind die Einzelbilder verkettet – so wollen wir dies hier nennen. Verkettet möge bedeuten, dass außer dem ersten und dem letzten Bild der Szene jedes Bild genau einen Vorgänger und jedes Bild genau einen Nachfolger hat. Das erste Bild hat naturgemäß keinen Vorgänger und das letzte Bild keinen Nachfolger. Somit handelt es sich bei verketteten Signalen nicht um einfache Signalmengen, sondern um Signalfolgen, die eine wohldefinierte Ordnung auf weisen.

Weiterhin besteht eine Besonderheit darin, dass jedes Bild nur für eine bestimmte, oft wohldefinierte Zeit zu sehen ist. Die Sichtbarkeitsdauer jedes Einzelbilder ist mehr oder weniger gleich groß, wenn der Film mit konstanter Geschwindigkeit abläuft. Bei den ersten Stummfilmen wurden pro Sekunde etwa 20 Bilder gezeigt, jedes von ihnen war also nur eine zwanzigstel Sekunde sichtbar.

Ähnlich ist es beim Erlernen von Sprache. Hier ist die zeitliche Folge von Lauten zu erlernen, die später noch mit Sinn erfüllt werden muss. Doch vor dem Erkennen einer Wortbedeutung muss erst einmal jedes Wort als zeitliche Folge von akustischen Signalen erlernt werden.

Die Frage ist, wie sich das Wirbeltiergehirn solche verketteten Signale (Signalfolgen) merken kann. Nach welchem Algorithmus erfolgt dies, und welche neuronalen Substrukturen sind auf welche Art daran beteiligt? Dieser Frage wollen wir uns in diesem Kapitel widmen. Vorausgesetzt wird recht umfangreiches Wissen über die neuronalen Substrukturen des Wirbeltiergehirns.

 

In den verschiedenen Kapitel über das Pontocerebellum in meinen bisherigen Veröffentlichungen wurde bereits geklärt, wie das Pontocerebellum ein Komplexsignal erlernt, welchem einer Menge von aktiven Elementarsignalen zugeordnet ist. Bedeutsam ist, dass hier die Prozesse der Langzeitpotenzierung und Langzeitdepression wirken, die (unter anderem) eine tetanische Erregung mit einer Dauer von einer Sekunde voraussetzen. So lange müssen auch die Signale auf die Purkinjezellen einwirken, damit sie dort verknüpft (geprägt) werden können. Ein Signal mit der Dauer von einer zwanzigstel Sekunde oder weniger kann im Pontocerebellum keinerlei Lernprozesse bewirken.

 

 

Um den Lernprozess für Signalfolgen zu begreifen, müssen wir die drei Teilsysteme des Gehirns analysieren, die gemeinsam zum Erlernen von Signalfolgen nötig sind. Es handelt sich – nach Ansicht des Autors – um das Cerebellum, das Basalgangliensystem und den Hippocampus mit seinen limbischen Rotationsschleifen. Wir werden die Fähigkeit des Erlernens von Signalfolgen verkürzt als das Zeitgedächtnis bezeichnen.

Da Sprache aus der Verkettung von Lauten besteht, wollen wir am Beispiel der Sprache erläutern, wie die Sprache im Gehirn erlernt wird.

Zunächst müssen dafür die Einzellaute einer Sprache erlernt werden. Dies wurde bereits im Kapitel 12.1 dieser Monografie kurz erklärt. Darauf wollen wir aufbauen.

 

16.1   Das Erlernen von Lauten einer Sprache

 

Grundlage für die Sprache ist einerseits der Hörsinn und andererseits der motorische Sinn. Wir beginnen mit dem Hörsinn.

Beim Hören versetzen die Luftschwingungen des Schalls das Trommelfell in Schwingungen. Über die Gehörknöchelchen werden diese Schwingungen zur Hörschnecke (Cochlea) übertragen und versetzen dort die Haarzellen in Schwingungen. Durch Reflexion entsteht eine Wanderwelle, in deren Folge die inneren Haarzellen der Basilarmembran neuronal erregt werden, wenn die Flüssigkeit dort in Schwingungen versetzt wurde. Für jede Schallfrequenz ist dies ein anderer Ort, so dass der Output der Haarzellen bereits eine Frequenzanalyse des Schalls beinhaltet.

 

Diese auditorischen Signale nehmen bei Wirbeltieren (unter anderem) den Weg zum auditorischen Cortex und von dort über die Brückenkerne ins Parallelfasersystem zu den Purkinjezellen des Pontocerebellums. Hierbei entspricht dem auditorischen Cortex ein auditorisches Areal im Cerebellum, welches diese Signale empfängt.

Gleichzeitig gibt es im auditorischen Cortex in der Schicht VI große Mittelwertneuronen, die cortikale Mittelwertsignale bilden. Diese erreichen absteigend über den Nucleus ruber den Nucleus olivaris und werden dort auf die Kletterfasern des auditorischen Areals im Cerebellum umgeschaltet.

Ertönt nun beispielsweise der Vokal „a“ aus dem Wort Mama, so wird ein Kleinkind, welches diesen Laut noch nicht erlernt hat, die Frequenzen des Lautes in der Cochlea analysieren, zum Cortex senden und diese für diesen Laut typische Frequenzmischung an die Parallelfasern des auditorischen Areals des Cerebellums senden. Da dieser Laut noch unbekannt ist, wird die erste freie Purkinjegruppe des Gebietes durch diesen Input geprägt werden und dieses Signal als Eigensígnal abspeichern, wenn gleichzeitig die nötige tetanische Erregung für die LPT und LTD durch das Mittelwertsignal auf den Kletterfasern aktiviert wurde.

Dafür müssen beide Signalarten jedoch etwa eine Sekunde vorhanden sein, die Mindestzeit für LTD und LTP im Cerebellum. Deswegen muss die Mutter den Laut a zeitlich etwa strecken und besonders langsam sprechen. Dies tun Mütter bei ihren Kleinstkindern, die gerade sprechen lernen, sowieso automatisch.

So lernt die erste freie Purkinjezelle (bzw. Purkinjegruppe) den Laut „a“. Sobald er später ertönt, feuert das zugehörige Outputneuron im Nucleus dentatus, sein Erkennungssignal erreicht über das Axon ein zugeordnetes Neurons im cortikalen Wernicke-Zentrum.

Nach dem gleichen Algorithmus erlernt das Kind alle wichtigen Laute der Sprache. Jedem Laut ist im auditorischen Areal des Pontocerebellum eine Purkinjezelle bzw. Purkinjegruppe zugeordnet, die diesen Laut gespeichert hat und immer dann, wenn er gesprochen wird, über das zugeordnete Outputneuron des Nucleus dentatus das Erkennungssignal zum cortikalen Wernicke-Zentrum sendet. Dort gibt es für jeden Laut genau ein Cortexneuron, das genau dann aktiv ist und feuert, wenn der zugeordnete Laut im Cerebellum erkannt wird.

Daher gibt es im Wernicke-Zentrum ein sogenanntes Lautareal, in dem jeder erlernte Laut genau eine dort angeordnete cortikale Pyramidenzelle erregt, sobald er ertönt. Dies geschieht mit unglaublicher Geschwindigkeit, denn die Haarzellen in der Cochlea reagieren fast trägheitslos und ihre Signale müssen auf den myelinisierten Axonen nur wenige beteiligte Neuronen aktivieren.

Das Cerebellum erkennt auf diese Weise zunächst Einzellaute, doch nun kommt der Hippocampus ins Spiel und ermöglicht die Erkennung von Lautfolgen.

Das Besondere ist jedoch, dass die Purkinjezellen zwar den Zeitraum von etwa einer Sekunde benötigen, um einen Laut zu erlernen, jedoch nur wenige Millisekunden, um ihn später wieder zu erkennen. Ertönt der Laut nach dem Erlernen also nur 10 Millisekunden, so erkennt das Pontocerebellum ihn trotzdem und meldet die Erkennung dem Wernicke-Sprachzentrum. Deswegen kann die Mutter die Sprechgeschwindigkeit um so mehr erhöhen, je mehr Sprachverständnis ihr Kind entwickelt. Schnellsprecher schaffen bis weit über 100 Buchstaben pro Sekunde, ohne dass die Sprachverständlichkeit darunter leidet. Das Cerebellum lernt also relativ langsam, erkennt jedoch extrem schnell!

Nach den Erlernen der Einzellaute einer Sprache fehlt nun noch das Erlernen von Silben, Wörtern und Sätzen. Hier geht es jedoch nicht darum, wie die Bedeutung einer Silbe, eines Wortes oder Satzes erkannt wird, sondern wie das Gehirn aus dem Lautgemisch, das wir als Sprache bezeichnen, Silber, Wörter oder Sätze erlernt und akustisch wiedererkennen kann. Der Sinn des Gesprochenen wird viel später begriffen und steht hier nicht zur Diskussion.

 

 

16.2   Das Erlernen der gesprochenen Sprache

 

Ausgangspunkt ist das Lautareal, welches im Wernicke-Zentrum vom Pontocerebellum die Einzellaute der Sprache empfängt. Wir gehen hier vereinfachend davon aus, dass es sich um die Sprache der Mutter eines Kleinkindes handelt, also immer der gleichen Mutter. Denn Sprache ist von Person zu Person verschieden in der Tonhöhe und der Intonation. Erst viel später lernt ein Kind, diese Unterschiede „auszublenden“.

 

Beim Erlernen der Silben und Wörter einer Sprache muss das Gehirn Signale miteinander verknüpfen, die nicht gleichzeitig, sondern zeitlich versetzt aktiv sind. Hier kommt nach Ansicht des Autors das limbische System zur Anwendung.

 

Der Output des Lautareals im Wernicke-Zentrum erreicht den Hippocampus. Für jeden bisher erlernten Laut gibt es dort ein Eingangsneuron, wahrscheinlich in der Amygdala. Diese projiziert in den  Hippocampus, der dieses Signal in eine höherfrequente Signalfolge überführt und durch Rückkopplung in einer geschlossenen Signalschleife rotieren lässt. Diese Signalrotation im limbischen System wurde schon im Jahre 1937 von amerikanischen Neurologen James Papez erkannt.

 

Jeder Sprachlaut, den das Cerebellum erkannte, löst in einer ihm zugeordneten Schleife im Papez-Kreis eine Signalrotation aus, die ohne ein notwendiges Stoppsignal nie enden würde.

Jeder dieser Papez-Kreise liefert das in ihm rotierende Signal bei jedem Umlauf an ein Outputneuron. Dieses Neuron werden wir vorläufig als Papez-Neuron des Sprachlautes bezeichnen. Es ist aktiv, sobald der Laut ausgesprochen und erkannt wurde. Und es bleibt aktiv, weil das Signal im zugehörigen Papez-Kreis ständig rotiert.

Alle Papez-Neuronen sämtlicher Laute projizieren absteigend zum Nucleus ruber, denn akustische Signale wie auch alle anderen Modalitäten dienten ursprünglich der motorischen Steuerung. Vom Nucleus ruber gelangten sie über den Nucleus olivaris zur Gegenseite. So konnten sie dort ursprünglich die kontralaterale Hemmung bewirken, weil beide Körperhälften in neuronaler Konkurrenz zueinander standen.

Als sich jedoch das Cerebellum herausbildete, dessen Eingangskern der Nucleus olivaris war, empfing das Cerebellum (unter anderem) über die Kletterfaserprojektion die limbischen Signale der Papez-Neuronen. Jede Kletterfaser empfing den Output von genau einem Papez-Neuron, also das Signal eines zugeordneten Lautes, wenn dieser gerade zu hören war.

Wir unterstellen hier, dass diese Kletterfaser im Cerebellum eine ganze Kette von Purkinjegruppen versorgte, zum Teil wegen ihrer größeren Länge, aber auch, weil sie sich in mehrere Kletterfaserableger aufspalten konnte.

Somit gab es zu jedem Sprachlaut eine Kette von Purkinjegruppen (jeweils bis zu drei Purkinjezellen mit identischem Input), denen immer eine Golgizelle folgte, alle wurden von der gleichen Kletterfaser aktiviert.

Wir unterstellen, dass jede aktive Purkinjegruppe ein zugeordnetes, erregende wirkendes Outputneuron im Nucleus dentatus aktivierte, ebenso ein hemmendes Outputneuron.

Das Outputneuron mit dem erregenden Transmitter möge zum Cortex projizieren und dort im Wernicke-Zentrum in einem Gebiet enden, das wir als Sprachgebiet erster Stufe bezeichnen wollen.

 

Nun benötigen Purkinjezellen zusätzlich zum Kletterfaserinput auch einen Parallelfaserinput. Wir postulieren hier, dass beide identisch sein sollen. Deshalb möge jedes Papez-Neuron, welches durch seine Aktivität einen erkannten Laut anzeigt, auch über die Brückenkerne und die Moosfasern in die Parallelfasern des betreffenden Cerebellumgebiet projizieren, im dem auch die Kletterfasern mit der gleichen Signalinformation enden.

 

Nun ist die Schaltung komplett und kann die erste Lautkombination aus zwei Lauten erlernen.

Wir analysieren, wie das Gehirn die erste Lautkombination aus zwei verschiedenen Lauten erlernt. Beispielsweise die Lautkombination „au“ im Wort Auto.

Die Mutter spricht also das Wort „au“ aus, beispielsweise um dem Kind klarzumachen, dass es sich gerade gestoßen hat und Schmerzen erleidet.

 

Der ausgesprochene Laut „a“ wird im Pontocerebellum erkannt und in seine limbische Rotationsschleife geschickt. Dort rotiert er zunächst dauerhaft im zugehörigen Papez-Kreis. Der Output erreicht absteigend sowohl die Purkinjezelle zum Laut „a“ als auch die Moosfasern zum Laut „a“. Diese aktivieren eine ganze Gruppe von Körnerzellen, die zur Cerebellumrinde aufsteigen und jeweils eine ganze Gruppe von Parallelfasern aktivieren. Die vom Kletterfasersignal erregte Purkinjezelle empfängt die Parallelfasersignale des Lautes „a“ und wird von ihnen geprägt. Sie erlernt den Laut „a“, der hier jedoch bereits für das Wort a steht.

Nun ertönt der Laut „u“, weil die Mutter das Wort „au“ ausspricht. Der Laut „a“ ist bereits verhallt, nun ertönt der Laut „u“.

Die erkennende Purkinjezelle sendet das Erkennungssignal für „u“ zum Papez-Neuron im limbischen System, woraufhin das ständige Rotationssignal zum Laut „u“ gestartet wird.

Die zum bereits erlernten Laut u gehörende Signalleitung vom limbischen Papez-Kreis aktiviert nun die zum Laut „u“ gehörende Kletterfaser. Die erste Purkinjegruppe an dieser Kletterfaser empfängt diese Kletterfasererregung.

Gleichzeitig treffen über die Moosfasern die Rotationssignale der beiden Laute „a“ und „u“ aus dem limbischen System in den Parallelfasern ein, so dass genau diese Purkinjegruppe diese beiden Laute durch Prägung erlernt. Werden später beide Signale gleichzeitig in Papez-Kreisen rotieren, wobei das Signal zu „a“ zuerst rotiert und das Signal zu „u“ später folgt, so wird diese Purkinjegruppe dies erkennen und die Erkennung der Silbe „au“ an das Wernicke-Sprachzentrum melden.

Sie wird von diesem Input geprägt und reagiert künftig immer genau dann, wenn die Lautkombination „au“ ertönt. Damit hat das Pontocerebellum die Silbe „au“ erlernt und wird sie später immer wiedererkennen. Das Outputneuron des Nucleus dentatus dieser Silbe muss nun sein Axon in Richtung des Wernicke-Zentrums senden, wo es an einer neu gebildeten cortikalen Pyramidenzelle andockt und diese aktiviert, sobald die Silbe „au“ ertönt.

Sie meldet die Erkennung dieser Silbe umgehend dem Cortex, indem sie im Wernicke-Zentrum in einem neuen Gebiet eine Purkinjezelle kontaktiert, die künftig immer dann erregt sein wird, wenn die Silbe „au“ ertönt.

Natürlich ist dieser Prozess mit der Neubildung von Purkinjezellen, Cortexzellen und neuen Neuronen im limbischen Papez-Kreis verbunden. Wir wissen ja bereits, dass im Cerebellum etwa bis ins zweite Lebensjahr neue Neuronen entstehen, deren Axone wiederum im Cortex, Hippocampus und in der Amygdala neu gebildete Zielneuronen kontaktieren müssen, damit die beschriebene neuronale Schaltung überhaupt schrittweise entstehen kann.

Es ist davon auszugehen, dass das cortikale Projektionsneuron im Wernicke-Zentrum, welches die neue Silbe „au“ repräsentiert, wieder den Kontakt zum limbischen System sucht und sein Axon dort wieder ein neues Inputneuron kontaktiert, welches wiederum den Papez-Kreis vervollständigt. Erklingt nun die Silbe „au“, wird im Papez-Kreis diese neue Rotationsschleife aktiviert und steht für die gerade gehörte Silbe „au“.

Hier ist zu vermuten, dass es auch im limbischen System, z. B. in der Amygdala, die bei jeder Signalrotation ebenfalls durchlaufen wird, eine rezeptive Nachbarhemmung gibt. In diesem Falle ist davon auszugehen, dass das Rotationssignal zur Silbe „au“ die zwei Rotationssignale „a“ und „u“ auslöscht, da diese mit ihm signalverwandt sind. Dann rotiert nur noch das Signal zur Silbe „au“.

Das Outputsignal dieser Rotationsschleife sendet sein Axon wieder einerseits zum Pontocerebellum in das cerebellare Wernicke-Zentrum. Dies geschieht wieder auf zwei Wegen: Einmal als Kletterfasersignal und außerdem über die Moosfaser als Parallelfasersignal.

Ertönt nun die Lautfolge „auf“, so wird auch die Rotationsschleife für den Laut „f“ aktiv und aktiviert über die Moosfasern auch die Parallelfasern zum Laut „f“. Da das Signal zur Silbe „au“ auch noch rotiert, aktiviert es ebenfalls die zur Silbe „au“ gehörenden Parallelfasern. Die erste Purkinjegruppe an der Kletterfaser zur Silbe „au“ wird tetanisch erregt vom Rotationssignal der Silbe „au“. Da diese Purkinjegruppe gleichzeitig die Parallelfasern der Silbe „au“ und des Lautes „f“ empfängt, wird sie mit diesen Signalen geprägt. Ertönt später irgendwann die neue Silbe „auf“, so erkennt diese Purkinjegruppe dies und meldet es dem zugehörigen cortikalen Wernicke-Zentrums, wo es an einem neuen (freien?) Neuron andockt.

Dieser Prozess kann beliebig fortgesetzt werden, so dass letztlich das Wort „Aufnahme“ erlernt und erkannt wird.

Doch das Lernen geht weiter. Nehmen wir an, die Mutter will ihrem Kleinkind das neue Wort „am“ beibringen. Die Silbe „au“ und das Wort „auf“ sind ja bereits erlernt worden.

Ertönt nun das neue Wort am, so wird der Laut „a“ als erster Wortbestandteil erkannt. Im Wernicke-Zentrum wird das Neuron zum Laut „a“ aktiviert, über dessen Axon im Pontocerebellum diejenige Kletterfaser aktiviert, die zu diesem Laut gehört. An dieser Kletterfaser hängt bereits diejenige Purkinjezelle, die zum Laut „a“ gehört. Gleichzeitig wird die Rotationsschleife zum Laut a aktiviert, über die Moosfaser erreicht sie diese Purkinjegruppe. Sofort meldet diese dem Cortexneuron im Wernicke-Areal: „Laut a erkannt!“

Wenn nun der zweite Lautbestandteil des Wortes „am“ ertönt, also das „m“, so sind gleichzeitig zwei Signale an der Signalrotation beteiligt, nämlich „a“ und „m“. Gleichzeitig sind auch zwei Kletterfasern aktiv, die erste zum Laut „a“ und die zweite zum Laut „m“. Auf den Parallelfaserleitungen sind ebenfalls beide Signalbestandteile aktiv. Die Purkinjegruppe zum Laut „a“ meldet die Erkennung dieses Lautes. Die Purkinjegruppe an der Kletterfaser zum Laut „m“ erhält die starke Kletterfasererregung und die Parallelfasererregung der Laute „a“ und „m“. Dies führt zur Prägung mit diesen Signalen. Ertönt später irgendwann das Wort „am“, so feuert das zugehörige Neuron im Nucleus dentatus und erregt ein neu kontaktiertes cortikales Neuron im Wernicke-Zentrum, welches die Silbe bzw. das Wort „am“ repräsentiert.

Zu bemerken wäre, dass es auch hier zur Löschung der vorangegangenen limbischen Rotationssignale kommt, in diesem Fall wird das Signal zum Laut „a“ und zum Laut „m“ gelöscht, während stattdessen die (neue) Rotationsschleife zur Silbe „am“ aktiviert wird.

Im limbischen System rotiert also unter anderem die letzte Silbe oder das letzte Wort als Komplexsignal. Wird weitergesprochen, so wird entweder ein weiterer Laut an die rotierende Silbe angehängt oder es wird eine neue Silbe analysiert. In diesem Falle werden nach dem gleichen Algorithmus zwei Silben zu einem neuen Wort miteinander verbunden. Auch hier wird das neue „Summensignal“ benutzt, um beide Teilsignale in den Rotationsschleifen zu löschen. So können mehrsilbige Wörter oder sogar ganze Sätze in einer zugehörigen Purkinjegruppe gespeichert, beispielsweise ganze Gedichte.

Anzumerken wäre, dass rotierende Signale in der limbischen Schleife durch längere Wortpausen höchstwahrscheinlich gelöscht werden. So wird verhindert, dass Silben, die zu verschiedenen Wörtern gehören, direkt zu neuen „Silben“ verknüpft werden, die es in der betreffenden Sprache gar nicht gibt. Gewonnen wird ein solches Löschsignal durch die Stille in der Sprechpause. Dann ist das auditorische Mittelwertsignal das Nullsignal. Wird es invertiert, z. B. durch das Spinocerebellum, so ist es als Löschsignal nutzbar. Es muss dann noch die Amygdala erreichen und dort die GABAergen Interneuronen im auditorischen Schleifenbereich aktivieren, so dass alle Sprachsignale gelöscht werden. Damit wird das auditorische System wieder auf Null gestellt.

So lernt das Kind die Sprache zu hören. Die Bedeutung der Silben und Wörter erfordert weiteres Lernen, bei dem Silben und Wörter mit den Abbildern neuer Objekte verknüpft werden. Auch hier wird cerebellares Lernen genutzt. Diese Abbilder können olfaktorische, gustatorische, visuelle, taktile sein oder andere Modalitäten beinhalten, sie werden mit den akustischen Abbildern synaptisch verknüpft und erlauben es, vom Wort auf seine Bedeutung zu schließen.

 

Zum Schluss haben wir noch eine wichtige Frage zu beantworten. Wenn das Sprachverständnis vom limbischen System und dem Hippocampus abhängt, dann ist zu klären, warum bei einer Störung oder Zerstörung des Hippocampus das Sprachverständnis oft erhalten bleibt. Auch das sogenannte Langzeitgedächtnis kann erhalten bleiben, Lediglich die Fähigkeit, etwas Neues, also auch neue Silben, Wörter oder gar Gedichte zu erlernen geht verloren?
Hier kommt das Basalgangliensystem zur Anwendung.
In der Abbildung 52 zum Kapitel 13 „Die drei Subsysteme des menschlichen Gehirns“ ist ersichtlich, dass in jedem der drei Subsysteme des Gehirns die Basalganglien und die limbischen Papez-Kreise parallel zueinander geschaltet sind. Bei einer Parallelschaltung empfängt jedes Teilsystem den cortikalen Output zu ihm und der Thalamus den Output dieser zwei parallel geschalteten Subsysteme.
Damit erhalten auch die Basalganglien den Sprachinput und können zu jedem Laut sein zeitversetztes kurzes Echo erzeugen und dem Cerebellum zustellen, sowohl über die Kletterfasern aus auch über die Moosfasern. Es sind die gleichen Kletterfasern und Moosfasern, die auch das limbische System benutzt, da beide parallel geschaltet sind.
Die erregenden, kurzen Echos der Basalganglien reichen jedoch den Purkinjezellen, um die Laute, Silben und Wörter zu erkennen und dem Cortex die Erkennung zu melden. Denn das Pontocerebellum lernt zwar langsam, erkennt jedoch sehr schnell und in Sekundenbruchteilen.
Deshalb bleibt beim Ausfall des Hippocampus oder des limbischen Systems das Sprachverständnis meist erhalten. Eine Störung des Basalgangliensystems jedoch kann nicht so einfach kompensiert werden.

 

Doch wie lernt das Kind das Sprechen? Wie erlernt ein Kind, seine am Sprechvorgang beteiligten Muskelgruppen derart anzusteuern, dass es selbst spricht?

 

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan