Gehirntheorie des Menschen

ISBN 978-3-00-068559-0

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

14.2  Die Körperstabilität und das Cerebellum

Das Spinocerebellum verarbeitet vorwiegend motorisch wirksame Signale, die es vom kontralateralen Nucleus ruber über den Nucleus olivaris empfängt. Es invertiert diese Signale und sendet die invertierten Signale zu den motorischen Gegenspielern. Doch welchen Nutzen zieht das Lebewesen aus diesem Algorithmus?

Das Hauptergebnis besteht in der Sicherstellung einer Körperstabilität. Der Körper behält seine aktuelle Form auch unter äußeren Einwirkungen, etwa der Schwerkraft. Nun bewegt er sich nur noch, wenn äußere Signale auf ihn einwirken, die Rezeptoren dieses registrieren und ihrerseits Aktionspotentiale zu den motorisch wirksamen Komponenten senden. Der Körper wird beispielsweise durch eine Wasserströmung nicht so verformt werden wie etwa Seetang, der sich im Wasser ständig hin und her bewegt.

Woran liegt dies?

Die Muskelspannung eines Muskels wird von den Sehnenorganen gemessen und in eine Folge von Aktionspotentialen übersetzt, die im Spinocerebellum invertiert wird. Dazu hemmt dieses Signal ein relativ frequenzkonstantes Mittelwertsignale, welches vom motorischen Mittelwertkern dieser Etage, der Formatio reticularis stammt. Die Signalinversion invertiert die Feuerrate. Aus einem starken Signal entsteht durch Inversion ein schwaches. Ist das Eingangssignal schwach, so ist das Ausgangssignal des Spinocerebellums stark. Wenn die Signalstärke gleich der des Mittelwertsignals ist, haben Input und Output die gleiche Feuerrate. Der Output erreicht den motorischen Gegenspieler, also den Muskel, der dem ursprünglichen entgegenwirkt.

Dadurch stellt sich ein konstanter Gelenkwinkel ein. Beide Muskel sind angespannt und widerstehen in gewissem Maße einer Änderung ihrer Muskelspannung. Theoretisch würde das betroffene Gelenk für alle Ewigkeiten in dieser Stellung verharren, ohne den Gelenkwinkel zu verändern. Praktisch ist dies nicht der Fall, weil die verschiedensten Rezeptoren des Körpers Signale erzeugen, von denen sehr viele motorisch wirksam sind.

Kommt jedoch die Signalerzeugung durch diese Rezeptoren zum Erliegen, etwa weil das cirkadiane Signal aus dem Nucleus suprachiasmatikus eine Hemmung der Körperbewegung erzeugt, die wir auch als Schlaf bezeichnen, so bleibt der Körper prinzipiell bewegungslos.

Hierbei wirkt das Spinocerebellum häufig zweifach. Denn nicht nur ein bestimmter Muskel sendet sein Signal zur Invertierung an das Spinocerebellum, sondern auch sein motorischer Gegenspieler. Die Körperstabilität wird also doppelt abgesichert.

Und da jeder Muskel das Signal seiner Sehnenorgane sowohl an den Cortex als auch an das Cerebellum sendet, liegen im Cortex beide Signale gleichzeitig vor. Das direkte Signal steigt vom Sehnenorgan kopfwärts und wechselt in der Kreuzungsetage auf die Gegenseite. Es erreicht die sensorische Seite des Frontalcortex und wechselt auf Neuronen der Klasse 3 zur motorischen Seite, wo es wieder zum Rückenmark absteigt. Hierbei durchläuft es wieder die Kreuzungsetage und wechselt zur ursprünglichen Körperseite.

Damit empfängt die kontralaterale Gehirnhälfte des Frontalcortex dieses Muskelsignal des Sehenorgans, dessen Muskel sich auf der ipsilateralen Körperseite befindet.

Während dieses Signal vom Cortex absteigt und wieder auf der Körperseite ankommt, auf der sich auch der erzeugende Muskel befindet, kommt es am Nucleus ruber vorbei. Dieser sendet das Signal jedoch nicht nur zum ursprünglichen Muskel, damit die dortige Muskelspannung erhalten bleibt, sondern reicht es über die Olive zum kontralateralen Spinocerebellum weiter. Dort findet die Signalinversion statt. Das invertierte Signal ist für den motorischen Gegenspieler bestimmt und steigt, falls sich der Gegenspieler auf der kontralateralen Körperseite befindet, einfach über das Rückenmark abwärts zu ihm ab. Dies trifft fast immer für die Rumpfmuskulatur zu.

Befindet sich jedoch der Gegenspieler auf der gleichen Körperseite - weil er beispielsweise ein Fingermuskel ist - so steigt das Signal vom Spinocerebellum kopfwärts. Doch die aufsteigenden Cerebellumsignale wechseln ebenfalls die Körperseite und erreichen dadurch den Frontalcortex der kontralateralen Körperhälfte. Wir wollen dieses Signal als indirektes Signal bezeichnen.

Somit kommen im Frontalcortex zwei Signalarten an, das direkte und das indirekte. Das direkte erregt den Ursprungsmuskel, das indirekte den motorischen Gegenspieler. Damit besitzt der Frontalcortex auf der sensorischen Seite zwei Inputschichten der Neuronenklasse vier. In einer - der älteren und unteren - treffen die direkten Signale der Sehnenorgane der Muskeln ein. In der zweiten - der jüngeren und oberen - kommen die indirekten Signale aus dem Spinicerebellum ein. Wir unterstellen, dass diese cortikalen Inputneuronen topologisch wohlgeordnet sind derart, dass wieder ein motorisches Körperabbild des Lebewesens entsteht. Wir gehen aber noch weiter: Wir unterstellen, dass die direkten und die indirekten Inputneuronen der Klasse 4 eines Muskelpaares räumlich zusammen angeordnet sind derart, dass sich das direkte Inputneuron unten und das indirekte genau oben darüber in der Schicht vier befindet, wenn man sich die Neuronenschicht in der Waagerechten ausgerichtet denkt. Man könnte auch davon sprechen, dass beide Inputneuronen in der Schicht eine Zellsäule bilden. Diese besteht anfänglich nur aus zwei vertikal angeordneten Inputneuronen.

Und genau so, wie der Frontalcortex inputmäßig eine Doppelschicht aus direkten und indirekten Neuronen bildete, so entstand im Nucleus olivaris ebenfalls eine Anordnung von Inutneuronen in solchen Doppelschichten.

Denn wenn sowohl ein Muskel als auch sein Gegenspieler der gleichen Körperseite zugeordnet waren - und dies betraf alle Extremitätenmuskel - empfing der Nucleus olivaris sowohl das direkte als auch das indirekte Signal der zwei beteiligten Sehnenorgane des Muskels und seines Gegenspielers gleichzeitig. So kam es auch dort - wie im Frontalcortex - zur Bildung der Doppelschicht aus Inputneuronen. Da die zusammengehörigen Inputneuronen zueinander inverse Signale empfingen, bezeichnen wir den Zeitraum der Herausbildung dieser inversen Doppelschichten im Verlauf der Evolution als Phase der Herausbildung der zueinander inversen Doppelschichten. Diese entstanden nicht nur im Nucleus olivaris und im Frontalcortex, sondern zunächst in allen sensorischen und motorischen Kernen des frühen Strickleitersystems bzw. seiner Nachfolger. Da sich im Verlauf der Evolution solche zueinander inversen Signalpaare auch bei nichtmotorischen Rezeptoren ausbildeten - man denke an die On- und Off-Signale der Retina - wird es in der weiteren Entwicklung generell zur Ausbildung von zueinander inversen Doppelschichten aus Inputneuronen gekommen sein. Ohne die Phase der Herausbildung der zueinander inversen Doppelschichten hätte die später einsetzende Signaldivergenz in vertikaler und noch später in horizontaler Richtung nicht stattfinden können.

Welches Ordnungsprinzip war dafür zuständig, die zwei zusammengehörigen Inputneuronen in der Neuronenschicht der Inputneuronen vertikal zueinander anzuordnen? Im motorischen war es die Eigenschaft, dass der Input einem gemeinsamen Gelenk entstammte, dessen zwei gegeneinander arbeitende Muskeln die zwei zueinander inversen Signale lieferten. Die Ansatzstellen der zwei Sehnen, die die Sehnenorgane zur Zugspannungsmessung enthielten, befanden sich am Knochen in großer räumlicher Nähe. Stellt man sich einen Körpermarker vor, der sich mit einem gewissen Gradientengefälle (Konzentrationsgefälle) im Körper verteilt, so waren die zwei beteiligten Sehnenorgane des Beugers und des Streckers räumlich ziemlich eng benachbart. Wurde die aktuelle Konzentration des Körpermarkers durch die beteiligte Nervenzelle vom Ursprungsort der Signalaufnahme zum axonalen Endpunkt der Signalübergabe weitertransportiert, so enstand auch am Zielort ein Gradientengefälle des Markers analog zum Ursprungsort, welches den beteiligten Axonen die Richtungssteuerung ermöglichte. So wurde die Ursprungstopologie in die Zielstruktur übernommen. Daher landeten die Axone von zwei zueinander inversen Signalen - egal ob sie von den Muskelspindeln eines Gelenks oder von der Retina stammten - stets ganz dicht beieinander. Da die cerebellaren Axone erst später gebildet wurden, weil sich das Cerebellum während der Induvidualentwicklung quasi verspätet herausbildete, landeten die inversen, cerebellaren Signale in einer eigenen Neuronenschicht, die sich über der bisherigen, primären Cortexschicht anordnete.

Betrachtet man das Signal des Sehnenorgans eines Muskels und das Signal des Sehnenorgans seines motorischen Gegenspielers als Signale zweier verschiedener Modalitäten, so lässt sich ihre Trennung in zwei Doppelschichten von Neuronen auch als Trennung der Modalitäten bezeichnen. Dieses neuronale Grundprinzip von zentralen Nervensystemen der Wirbeltiere - sicherlich auch in früheren Tierklassen anzutreffen, wollen wir als Prinzip der Trennung der Modalitäten bezeichnen. Damit sind zwei grundlegende Prinzipien unmittelbar miteinander gekoppelt. Die Phase der Herausbildung der zueinander inversen Doppelschichten ist die Realisierung des Prinzips der Trennung der Modalitäten.

Und beide Prinzipien beschränken sich nicht auf den Nucleus olivaris oder den Cortex, sondern erfassen im Verlauf der Evolution fast sämtliche neuronale Strukturen. Wir finden sie in allen Kopfsegmenten des ehemaligen Strickleiter-Nervensystems und dort in allen neuronalen Kernen, sowohl in sensorischen Eingangskernen, motorischen Ausgangskernen, sensorischen Seitenwechselkernen und motorischen Seitenwechselkernen. Die Trennung der Modalitäten und die Herausbildung zueinander inverser Doppelschichten zog sich, einmal begonnen, durch alle Substrukturen des zentralen Nervensystems. Beim Menschen finden sich Spuren dieser Entwicklung selbst im Rückenmark, wo sich die Neuronen, welche die Signale der Beugermuskeln empfangen, räumlich zusammenschließen und sich deutlich von jenen Neuronen absondern, die die Signale der Streckmuskelatur entgegennehmen. Nach Ansicht des Autors dieser Monografie begann die Trennung der Modalitäten zuerst im motorischen Seitenwechselkern der Eingangsetage des segmentierten Strickleitersystems, also im frühen Nucleus olivaris und führte zur Entstehung des Frontalcortex.

 

Doch die Evolution blieb nicht stehen.

Mit der Entwicklung einer Signaldivergenz im Nucleus olivaris und im Cortex begann eine neue Etappe der motorischen Steuerung. Anfangs - als noch die Doppelschicht aus Inputneuronen existierte - gab es dort auch nur zwei Outputneuronen pro einfachem Muskelgelenk. Diese empfingen die zwei Inputsignale, die zueinander invers waren, und gaben die Signale zur motorischen Seite weiter, wo sie zu den motorischen Zielen herabstiegen.

Die Signaldivergenz führte zur Entwicklung zusätzlicher Outputneuronen, um die Übertragungssicherheit zu erhöhen. Nun konnten einzelne Neuronen ausfallen, ohne das Gesamtsystem zu gefährden.

Stellen wir uns vereinfacht vor, dass jede der zwei Inputschichten eine eigenständige Outputschicht besaß. In dieser Outputschicht gab es zu jedem Inputneuron genau ein Outputneuron. Somit gab es auch zwei Outputschichten.

Wie im Kapitel -Divergenzmodule mit vertikaler Signalmischung- beschrieben, begann die Phase der vertikalen Signaldivergenz mit der schrittweisen Entstehung zusätzlicher Outputneuronen in den zwei Outputschichten. Eine der zwei Outputschichten befand sich genau zwischen den zwei Inputschichten, die andere lag über der zweiten Inputschicht.

Die zwei zueinander inversen Signale waren jedoch signalverwandt zueinander. Das indirekte Signal entstand im Spinocerebellum aus dem direkten Signal durch Signalinversion. Die Neuronen, die das indirekte Signal bildeten und transportierten, waren am anfang der Neuronenkette mit dem gleichen Inputneuron verbunden, welches das direkte Signal vom Sehnenorgan des Muskels empfing. In Neuronenketten wird die Signalverwandschaft weitergegeben. Daher waren die direkten Inputneuronen der Doppelschicht mit den indirekten Inputneuronen signalverwandt, wenn sie dem gleichen Gelenk entstammten.

Die Interneuronen, die die Signale der Inputneuronen an die Outputneuronen weitergaben, kontaktierten nur signalverwandte Inputneuronen. Daher musste das Signal einerseits dem gleichen Gelenk entstammen. Es war jedoch egal, ob es sich um das direkte oder das indirekte Signal handelte. Die Outputneuronen der unteren Outputschicht waren vertikal untereinander angeordnet und bildeten so eine motorische Neuronensäule. Jedes Outputneuron empfing dort über Interneuronen sowohl das direkte Inputsignal der unteren Inputschicht als auch das signalverwandte, indirekte, cerebellare Signal der oberen Inputschicht.

In der oberen Outputschicht mag es genauso gewesen sein. Wir sind jedoch vorläufig der Ansicht, dass die obere Outputschicht mit der Zeit reduziert wurde. Dies lag an der Konkurrenz der Signale untereinander. Zu jedem Outputsignal der unteren Outputschicht gab es ein identisches Signal der oberen Outputschicht, beide standen als Outputsignale über hemmende Interneuronen in Konkurrenz. Da die untere Outputschicht mit zeitlichem Vorsprung gebildet wurde, war sie im Vorteil, so dass die obere Outputschicht im Lauf der Evolution verschwand.

Damit blieb zwischen der Doppelschicht aus Inputneuronen nur noch eine Outputschicht übrig, in der sich jedoch die Anzahl der Outputneuronen im Verlauf der Evolution erhöhte. Diese Outputschicht war vertikal organisiert in der Weise, dass vertikal angeordnete Outputneuronen den Input genau eines einfachen Gelenks empfingen. Das obere Inputneuron empfing die indirekten, cerebellaren Signale des Gelenks, das untere das direkte Signal dieses Gelenks.

Jede Neuronensäule bildete ein Divergenzmodul mit vertikaler Signalmischung. Durch die exponentielle Dämpfung bei der Signalausbreitung, die mit dem Abstand quadratisch zunahm, entstand in der Output-Neuronensäule eine Maximalcodierung des Signalstärkeverhältnisses aus direktem und indirektem Signal. Dadurch war es möglich, den Gelenkwinkel maximumcodiert darzustellen. Jeweils genau ein Outputneuron in der vertikalen Neuronensäule erreichte ein Signalstärkemaximum. War das direkte Signal stärker, so befand sich das aktive Outputneuron weiter unten in der Säule. Nahm die Signalstärke des direkten Signals ab und die des inversen, indirekten Signals zu, so wanderte das Erregungsmaximum in der Säule nach oben. Jedes Outputneuron repräsentierte, falls es maximal erregt war, einen anderen Gelenkwinkel.

Der Weg der Outputsignale blieb beim Übergang von der Doppelschicht zum Divergenzmodul der gleiche. Alle Outputneuronen projizierten kopfwärts in den Frontalcortex. Auch dort gab es nun anstelle der Doppelschicht ein Modul aus jeweils einer Zellsäule pro einfachem Gelenk. Die Anzahl der Neuronen der cortikalen Säule entsprach der Anzahl der Neuronen in der Herkunftsstruktur. Dies konnte entweder ein sensorischen, ein motorischer oder ein Seitenwechselkern sein. Für motorische Signale etablierte sich der Nucleus olivaris als Seitenwechselkern für fast alle motorischen Signale.

Die cortikale Zellsäule machte die Signaldivergenz jedoch wieder rückgängig. Denn es hatte sich zwar die Anzahl der Neuronen im Übertragungsweg der zwei Signale geändert, jedoch nicht die Muskelanzahl am zuständigen Gelenk. Daher bildete der Frontalcortex aus dem maximumcodierten Inputsignal der Zellsäule wieder die zwei zueinander inversen Ausgangssignale, um sie den zwei Muskeln des Gelenks zuzustellen. Die Outputneuronen bildeten wiederum vertikal organisierte Zellsäulen.

So war der Frontalcortex in den Anfängen der Evolution eine Doppelschicht, später jedoch nahm die Dicke der Outputschicht zu und arbeitete als vertikale Konvergenzschaltung.

Diese Schaltungsart finden wir mit Sicherheit sowohl bei Reptilien als auch bei Vögeln wieder. Beim Säugetier jedoch fand eine weitere, zusätzliche Signaldivergenz in der Fläche statt, wie es im Kapitel -Module mit räumlicher Signalausbreitung- beschrieben wurde. Hierbei entstanden neue Outputneuronen nicht nur genau zwischen den zwei Inputneuronen der ursprünglichen Doppelschicht, sondern auch seitlich in der Fläche.

Dies erlaubte es, nun auch die Stellung von Gelenken mit zwei Freiheitsgraden über eine Maximumcodierung zu analysieren.

Es ist jedoch möglich, dass das Vogelhirn es geschafft hat, eine solche Analyseleistung ebenfalls zu realisieren. Möglicherweise gibt es im Vogelhirn Gebiete, die ebenfalls als räumliche Divergenzmodule und räumliche Konvergenzmodule arbeiten. Es wäre auch möglich, dass die Winkelanalyse von Drehgelenken über einen anderen, bisher unbekannten mathematischen Algorithmus vorgenommen wird. Hier mögen Mathematiker nach weiteren Lösungsmöglichkeiten suchen.

Nun müssen wir jedoch zum Ursprungsthema der Körperstabilität zurückkommen. Sie wird gewährleistet, indem das direkte Signal eines Muskels in das indirekte Signal des Gegenspielers überführt wird. Beide Signale erreichen über den Cortex absteigend wieder die zwei beteiligten Muskeln und stellen die Muskelspannung genau auf den Wert ein, der dem aktuellen Gelenkwinkel entspricht. Es ist wie bei einer Servolenkung. Die Messfühler sind die Sehnenorgane, ihr Signal erreicht die Motoneuronen. Und jedes der zwei Sehnenorgane liefert unter Zuhilfenahme des Cerebellums zwei Signale, ein direktes und ein indirektes, das Letztere versorgt den motorischen Gegenspieler.

Im Verlauf der Evolution kam es sogar zur Entwicklung besonderer Muskeln. Möglicherweise waren sie sogar zuerst da. Es sind Muskeln im Miniaturformat, extrem klein, ja geradezu winzig. Man bezeichnet sie als Muskelspindeln. Sie liegen in Reihe zur übrigen Muskulatur.

Auch sie besitzen Sehnenorgane, die die Muskelspannung messen. Ihre Aufgabe besteht darin, den eingestellten Gelenkwinkel zu stabilisieren.

Wirkt eine äußere Kraft auf das Gelenk und ändert den Gelenkwinkel, so erzeugt das Sehnenorgan der Muskelspindel ein Korrektursignal, welches zur zusätzlichen Ansteuerung der Gelenkmuskulatur genutzt wird. Dadurch wird die Zugspannung der Gelenkmuskeln zusätzlich so geändert, dass der ursprüngliche Gelenkwinkel wieder eingenommen wird. Die Muskelspindeln kompensieren äußere Krafteinwirkungen auf den Körper. Sie sind die Ursache für etliche Reflexe, etwa den Kniesehnenreflex, mit dem Neurologen den Zustand der motorischen Steuerung analysieren können.

Wenn nun das neuronale System darauf ausgerichtet ist, eingestellte Gelenkwinkel stabil zu halten, wie kommt dann die Bewegung des Lebewesens zustande?

Bewegungen können nur entstehen, wenn äußere Einwirkungen die Rezeptoren des Körpers erregen und deren Erregung letztlich die Motoneuronen des Systems zusätzlich erregt. Dann verändert sich die Feuerrate der Sehnenorgane, wodurch ein neuer Gelenkwinkel eingestellt wird.

Wie aber entstehen Bewegungen wie Schwimmen, Laufen oder Fliegen? Hier kann man keine äußeren Einwirkungen aus der Umwelt dafür verantwortlich machen. Die Entstehung solcher periodischer Bewegungen muss aus dem System selbst kommen, also vom Tier aktiv verursacht werden. Man könnte meinen, das Tier müsse einen inneren Antrieb erzeugen, eine Art Willensanstrengung, möglicherweise sogar eine bewusste Bewegung auslösen. Dies mag alles sein, doch am Anfang aller derartigen Bewegungen standen Taktgeneratoren, die eine periodische Bewegung wie Schwimmen, Laufen oder Fliegen möglich machten. Dies wird im nachfolgenden Kapitel näher erläutert.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan