Gehirntheorie des Menschen

ISBN 978-3-00-068559-0

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

14.4   Die Bewegungserzeugung am einfachen Gelenk

Im vorangegangenen Kapitel wurde dargelegt, wie ein Startsignal aus dem Mittelwertsystem zur Lebenserhaltung - beispielsweise ausgelöst durch Energiemangel -zwei zueinander phasenverschobene und periodische Dauerschwingungen erzeugte, die zur motorischen Steuerung des Körpers geeignet erschienen.

Nun  erwartet der Leser möglicherweise irgendeine neue, bisher unbekannte neuronale Schaltung, mit der aus diesen zwei motorischen Taktsignalen Bewegungen generiert werden könnten. Mancher wird eine komplizierte, möglicherweise recht undurchsichtige Verschaltung im Gehirn erwarten. Doch dem ist nicht so!

Die Schaltungen, die aus zwei motorischen Taktsignalen Bewegungen generieren, sind bereits seit Ewigkeiten im Wirbeltiergehirn vorhanden und recht simpel. Eine Möglichkeit, Bewegungen aus Taktsignalen zu generieren, bieten ganz gewöhnliche Divergenzmodule (in früheren Monografien von mir auch als Divergenzgitter bezeichnet).

Divergenzmodule und Konvergenzmodule unterscheiden sich hinsichtlich des Inputs und des Outputs. Divergenzmodule befinden sich im aufsteigenden, sensorischen Zweig des Strickleitersystems bzw. auf der sensorischen Hälfte des Neuralrohrs.

Konvergenzmodule dagegen finden wir auf der motorischen Seite.

Beide Modularten entstanden durch die Notwendigkeit, neuronale Schaltungen gegen den Ausfall einzelner Neuronen abzusichern. Dazu wurden neuronale Signale auf mehrere Neuronen verteilt. Dies passiert in Divergenzmodulen. In den Konvergenzmodulen wurde die Signaldivergenz wieder rückgängig gemacht. In beiden Fällen gab es die Möglichkeit, diese Reserveneuronen zunächst als vertikale Neuronensäulen anzuordnen. Dies hatte den Vorteil, dass in der Fläche die topologische Anordnung erhalten blieb. So sind die Neuronen im visuellen Cortex, aber auch im Corpus geniculatum laterale, in derartigen Neuronensäulen wohlgeordnet, die man als Augendomininanzsäulen bezeichnet.

Diese einfachsten Divergenzmodule sind auch diejenigen, die im Verlauf der Evolution zuerst entstanden sind, und die man noch heute bei Reptilien ond Vögeln antrifft. Es sind Divergenzmodule mit vertikaler Signalausbreitung.

Hierbei ist zu beachten, dass der Input für solche Divergenzmodule mit vertikaler Signalausbreitung grundsätzlich aus einem Paar zueinander inverser Signale besteht, die oben bzw. unten in die Neuronensäule eingespeist werden. Erzeugt eine Urgröße, beispielsweise die Helligkeit, in einem Rezeptor eine Feuerrate, die mit der Stärke der Urgröße zunimt, so wird dieses Signal als On-Signal bezeichnet. Das dazu inverse Signal nimmt in seiner Stärke mit der Feuerrate ab, wenn die Stärke der Urgröße zunimmt. Beide Signale sind invers zueinander.

Beim Divergenzmodul mit vertikaler Signalausbreitung bilden die Neuronen der On-Signals eine dünne Neuronenschicht. Die Neuronen des Off-Signals bilden eine zweite dünne Neuronenschicht. Zwischen beiden Inputschichten befindet sich eine relativ dicke Outputschicht, die man auch als Stapel von dünnen Outputschichten auffassen könnte. Mit zunehmender Evolution wird die Stapelanzahl größer, anfänglich gab es nur eine dünne Outputschicht.

Ob die On-Schicht oben und die Off-Schicht unten angeordnet ist, hängt davon ab, welche Rezeptorenart in der Evolution früher vorhanden war.

Hier kommt das Cerebellum ist Spiel. Es war - nach der Entwicklung des Cerebellums - gar nicht mehr nötig, dass jede Signalart eine dazu inverse Signalart bildete. Im visuellen Bereicht - der sehr früh entstand - konnte sich eine derartige Aufspaltung der Signale in On-Typen und Off-Typen entwickeln. Bei vielen Rezeptorenarten, die die Motorik betrafen, kam es nicht dazu. Es gibt keine -inversen- Muskelspindeln, deren Signalstärke mit zunehmender Muskelspannung kleiner wird. Es gibt keine -inversen- Sehnenorgane, deren Feuerrate mit nachlassender Muskelspannung steigt. Die Aufgabe, zu einem motorisch wirksamen Signal ein inverses Signal zu bilden, übernahm das Cerebellum. Sowohl im Vestibulocerebellum als auch im Spinicerebellum war die Signalinversion ursprünglich die Hauptaufgabe.

Der Cerebellumoutput fand - im Verlauf der Evolution - und sicherlich recht früh - den Weg zum Cortex, also zur obersten Etage des frühen Strickleitersystems bzw. zur cortikalen Etage des Neuroanrohrsystems. Da er hierbei auch noch den Seitenwechsel vollzog, kam er gemeinsam mit den ursprünglichen Signalen im Cortex an. Die ursprünglichen Signale gab es bereits vor der Entstehung des Cerebellums, daher waren sie die evolutionär älteren Signale. Sie bildeten daher die untere Inputschicht im Frontallappen. Die Cerebellumsignale, die durch Signalinversion entstanden, bildeten im Frontalcortex die obere Inputschicht. Hierbei ordneten sie sich topologisch wohlgeordnet so an, dass sich genau über jedem Inputneuron, welches ein bestimmtes On-Signal empfing, das zugehörige Inputneuron mit dem Off-Signal aus dem Cerebellum befand. Dazwischen befanden sie die Outputneuronen, die über eine Unzahl von Interneuronen den Input der darüber bzw. darunter befindlichen Outputneuronen empfingen. Sie bildeten sozusagen die Outputsäule. Die Signalausbreitung erfolgte prinzipiell vertikal, daher die Bezeichnung Divergenzmodule mit vertikaler Signalausbreitung.

Während sich also das On-Signal aus der unteren Inputschicht vertikal nach oben ausbreitete, kämpfte sich das Off-Signal der oberen Inputschicht nach unten durch. Alle Outputneuronen der vertikalen Neuronensäule zwischen den beiden Inputneuronen mit den zueinander invertierten Signalen empfingen beide Signalanteile, weil diese sich über Interneuronen vertikal ausbreiteten. Wir können diese Neuronen zu einer Outputsäule zusammenfassen. Sie ist die typische Organisation im Cortex der Wirbeltiere. kontakte zu den benachbarten Outputneuronen der Nachbarsäulen gab es nicht, der Abstand war zu groß und die Neuronen nicht signalkompatibel - sie gehörten zu anderen Muskelgruppen.

Wenn nun das betreffende Gelenk keine Signale erzeugte, weil beide Muskeln erschlafft waren, so gab es in der betreffenden Outputsäule keinerlei Output.

Nun erfolgt die Signalausbreitung im Divergenzgitter nicht verlustfrei. Auf ihrem Weg von den zwei Inputneuronen zu den Outputneuronen der Zellsäule kam es zu einer nichtlinearen Signaldämpfung. Die neuronale Erregung einer Nervenzelle entstand letztlich durch den Konzentrationsunterschied der verschieden geladenen Ionen. Da es in der Zellmembran durch ständig geöffnete Ionenkanäle zu einem Konzentrationsabfall kam und die Bewegung der Ionen durch den elektrischen Widerstand des Zellplasmas behindert wurde, nahm die Signaldämpfung mit zunehmendem Abstand von der Inputquelle zu. Wir unerstellen hier eine quadratische Abhängigkeit von der Entfernung.

Wie aber konnte ein solches Divergenzgitter ein Gelenk bewegen?

 

Hier machen wir einen Rückgriff auf das Mittelwertsystem. Dieses erzeugt bei Bedarf - so wie im vorangegangenem Abschnitt beschrieben - zwei zueinander phasenverschobene Taktsignale, eines vom On-Typ und eines vom Off-Typ. Wir erinnern und nun an die Rückprojektion aller Mittelwertsystem in Aktivierungsneruronen der Neuronenklasse 1.

Diese Aktivierungsneuronen finden wir auch im Cortex. Wir unterstellen, dass die motorischen Taktsignale - gebildet aus motorisch wirksamen Mittelwertsignalen - in dem cortikalen Zielgebiet enden, in dem sich auch die motorischen Steuersignale der Muskeln befinden. Daher landen diese Taktsignale - unter anderen - auch in der Nähe der Neuronensäule, die unserem Gelenk zugeordnet ist.

Die Signale der Sehnenorgane dieses Muskels ziehen zum sensorischen Zentrum und kontaktieren über die Axone der Rezeptoren ein Neuron der Klasse 4. Dieses tranportiert das Signal unter Zwischenschaltung weiterer Neuronen der Klasse 4 zum sensorischen Teil des Frontallappens. Ein Neuron der Klasse 3 übernimmt die Erregung und projiziert in ein motorisches Projektionsneuron der Klasse 5. Dieses projiziert wieder über weitere Zwischengeschaltete Neuronen der Klasse 5 zu einem Motoneuron der Etage, in der der siglalliefernde Muskel liegt.

Ist der Muskel erschlafft, so existiert zwar der Signalweg über die beschriebene Neuronenkette, aber er ist signalfrei. Dies änder sich, wenn das neuronale Taktsignal, dessen Entstehung wir beschrieben haben, vom zugehörigen Mittelwertzentrum einn cortikalen Aktivierungsneuron der Klasse 1 erregt. Dann wird diese Erregung von Interneuronen auf das Neuron der Klasse 4 bzw. Klasse 5 übertragen, welches im Signalweg des betreffenden Muskels liegt. Über die absteigende Projektion vom Cortex zum Motoneuron wird der Muskel erregt und kontrahiert daher.

 

Wir unterstellen, dass sich das On-Taktsignal unterhalb der On-Inputschicht anordnet. Das zugehörige Aktivierungsneuron hat einen größeren Axonradius und verteilt seine Erregung in die Umgebung.

Das zugehörige Off-Taktsignal landet oberhalb der On-Inputschicht, wo es die ursprügliche Schicht der Aktivierungneuronen der Klasse 1 gab.

So wird der Neuronensäule des Gelenks von unten das On-Signal des motorischen Taktsignals zugeführt, während von oben das motorische Off-Taktsignal zugeführt wird. Das On-Signal erregt den einen Kontraktionsmuskel des Gelenks, das Off-Signal den Gegenspieler. Und da die Feuerrate des motorischen On-Taktsignals einer Sinuskurve ähnelt, als periodisch ist, wird der eine Muskel des Gelenks periodische kontrahiert, während der motorische Gegenspieler jeweils phasenverschoben kontrahiert wird, da er vom Cerebellum invers erregt wird. Das löst im Gelenk eine periodische Bewegung aus.

Eine periodische Bewegung eines Gelenks (mit einem Freiheitsgrad) wird also durch das aus Mittelwerten gebildete motorsche Taktsignal erzeugt.

Im beschriebenem Fall hatten wir die motorischen Outputneuronen im Frontalcortex verortet. Das ist jedoch nicht zwingend notwendig.

Ebenso hätten wir diese Neuronensäulen im Torus semicircularis verorten können. Denn dieses System ist einerseits an das Basalgangliensystem angeschlossen und andererseits an des Spinocerebellum, und beide waren in das Mittelwertsystem eingebunden. Die Herausbildng der Neuronensäulen im Torus semicircularis könnte also in evolutionär früherer Zeit erfolgt sein, später übernahm der Frontalcontex speziellere Aufgaben. Ursache war die Aufspaltung der Modalitäten und Segmente oberhalb des Torus semicircularis, so dass bestimmte Gelenke eigene räumliche Repräsentationen im Frontalcortex erhielten und somit separat angesteuert werden konnten. Das erweiterte das mögliche Bewegungsspektrum des Wirbeltieres.

Auf alle Fälle ließe sich erklären, warum ein Tier, dessen Cortex entfernt wurde, noch zu höheren Bewegungen wie etwa dem Laufen befähigt ist, wenn man es durch geeignete Massnahmen so abstützt, dass die Beine noch frei pendeln können. Hier erfolgt die motorische Steuerung in den tieferen Hirnkernen.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan